Die Coriolis­kraft in Näherungs­lösungen





   Ein Hinweis: Das unten benutze ENU-Bezugssystem,
   die Wirkkraft und die Scheinkräfte in rotierenden Koordinatensystemen
   werden hier behandelt:


Der freie Fall im Schwerefeld


Ein Beobachter steht am Breitengrad ϑ und lässt aus der Höhe h einen Ball der Masse m unter dem Einfluss der Schwerkraft senkrecht nach unten fallen.

Das Schwerefeld wird als homogen angenommen und die Zentrifugalraft wird vernachlässigt. In welchem Umfang lenkt die Corioliskraft den fallenden Ball aus der Vertikalen?

Ich führe ein ENU-Bezugssystem {i=1,2,3} am Breitengrad ϑ ein. Die x1-Achse zeigt nach Os­ten, die x2-Achse zeigt nach Norden, die vertikale x3-Achse zeigt zum Zenit.


Die Newton'sche Bewegungsgleichung im mit­ro­tie­ren­den Bezugssystem ist gegeben durch:

bG ist die durch die Schwerkraft verursachte Beschleunigung, bC die durch die Corioliskraft verursachte. Der konstante Vektor ω be­schreibt die Erdrotation in Richtung und Win­kel­geschwindigkeit.

Die Anfangsbedingungen sind so gewählt - die Anfangsgeschwindigkeit ist also null:

 


In Anbetracht der auftretenden Fallgeschwindigkeiten kann die Corioliskraft als kleine Störkraft betrachtetet werden.

Die Lösung für den Geschwindigkeitsvektor in nullter Näherung (also ohne die Co­rio­lis­be­schleu­ni­gung) ist wohlbekannt:

In erster Näherung ergibt sich dann:

Neben der vertikalen Bewegung erhält man al­so eine Be­schleu­ni­gungs­kom­po­nen­te in Rich­tung Osten.

Die Lösung liegt auf der Hand:

Die Fallzeit th bis zur Höhe x3=0 ist:

Die Auslenkung ΔC für die Fallzeit th durch die Co­rio­lis­kraft nach Osten ist dann explizit - sie wächst mit der 3. Potenz der Fallzeit:

ω = 7,292115 x 10-5 radians/sec

g = 9,80616 m/sec²

h = 100 m

ϑ = 45°

t100 = 4,516 s

ΔC(t100) = 0,0155 m = 1,55 cm

Auf 100 m Fallhöhe bewirkt die Corioliskraft also nur eine recht kleine Ablenkung aus der Ver­ti­ka­len von 1,55 cm. Am Äquator ist die Auslenkung am größten, am Nordpol gibt es kei­ne sol­che.

Aber: Über lange Wirkungszeiten kann die Corioliskraft durchaus eine gestaltene Wir­kung er­zie­len – so werden die großen Passatwinde auf der Nord- und der Südhalbkugel der Erde durch die Corioliskraft stark in ihrer Strömungsrichtung beeinflusst.




Das starre Kugelpendel im Schwerefeld


Ein Beobachter steht am Breitengrad ϑ und lässt ein Pendel der Länge l und der Masse m unter dem Einfluss der Schwerkraft schwingen.

Das Schwerefeld wird als homogen angenommen und die Zentrifugalraft wird vernachlässigt. In welchem Umfang lenkt die Corioliskraft das schwingende Pendel aus der anfänglichen Schwin­gung­ebe­ne?

Ich führe ein ENU-Bezugssystem {i=1,2,3} am Breitengrad ϑ ein. Der Aufhängepunkt des Pen­dels ist der Koordinatenursprung. Die x1-Achse zeigt nach Osten, die x2-Achse zeigt nach Norden, die vertikale x3-Achse zeigt zum Zenit.


Ich führe im ENU-Bezugssystem {i=1,2,3} an der Breite ϑ sphärische Koordinaten γ und χ ein. Die ver­tikale 3-Achse zeigt zum Zenit, der Winkel γ ist der Auslenkwinkel des Pendels ge­gen­über der Vertikalen entgegen dem Uhr­zei­ger­sinn, der Winkel χ ist der Azimuthwinkel.

Die Newton'sche Bewegungsgleichung im mit­ro­tie­ren­den Bezugssystem ist gegeben durch:

b'G ist die durch die Schwerkraft verursachte Be­schleunigung und bC die durch die Co­rio­lis­kraft verursachte. Zu beachten ist hier, das die radiale Komponente der Schwerkraft durch das starre Pendelseil (besser: Pendelstange) auf­ge­nom­men wir, bG ist der wirksame Anteil der durch die Schwerkraft verursachten Be­schleunigung. Der konstante Vektor ωe beschreibt die Erdrotation in Richtung und Win­kel­ge­schwin­dig­keit.

Die kartesischen Koordinaten der Pen­del­mas­se müssen dabei zu allen Zeiten eine Ne­ben­be­din­gung erfüllen:


Ich betrachte nur kleine Auslenkwinkel γ , set­ze also eine lineare Näherung in γ an, möch­te aber weiter in kar­te­si­schen Ko­or­di­na­ten rech­nen. In dieser Näherung erhalte ich dann:

Die Anfangsbedingungen sind mit χ=0 so ge­wählt:

Damit erhält man die wirksame Schwer­kraft­be­schleu­ni­gung in linearer Näherung in γ zu:


Ich setze nun x1 = x, x2 = y, x3 = z und erhalte die Differentalgleichungen mit

Ich führe eine komplexe Größe ein und er­hal­te für die beiden ersten Gleichungen eine kompakte Darstellung:

Ich probiere den Ansatz und er­hal­te eine quadratische Gleichung in α mit den Lösungen:

Mit erhält man die ge­nä­her­ten Lö­sun­gen für α1,2 und dann die allgemeine Lö­sung für Z mit komplexen Konstanten c1,2:

Als Anfangsbedingungen wird gewählt:

Ein wenig Rechnerei ergibt angenähert:

Dabei ist , etc.

Für eine nichtrotierende Erde ist also x(t)≡0, dreht sich die Erde, so wandert die Schwin­gungs­ebe­ne mit der Kreisfrequenz (ωe sinϑ) nach Osten. Die Periodendauer TC ist dann:

Am Äquator ist ωC=0, das Pendel schwingt also in einer fixen Ebene. Am Pol dreht sich die Schwin­gungs­ebe­ne genau einmal in 24 Stunden – oder vom Inertialsystem aus gesehen: das Pen­del schwingt in einer fixen Ebene und die Erde dreht sich einmal in 24 Stunden unter dem Pen­del hinweg.


Zeitlicher Bewegungsablauf in der xy-Ebene

Das Bild zeigt die ersten 10 Einzelschwingungen. Man beachte die unterschiedlichen Ska­lie­run­gen der beiden Achsen! Das Pendel hat die Länge 67 m und steht in Paris (Breite 40°); die an­fäng­li­che Auslenkung y0 beträgt 1,35 m.

Die Endpunkte der Einzelschwingungen wer­den für die Zeiten tn, n=0,1,2,.. an­ge­nom­men. Die­se Endpunkte liegen auf einem Kreis mit dem Radius y0. Der aktuelle Endpunkt wan­dert auf diesem Kreis mit der Win­kel­ge­schwin­dig­keit ωC. Für einen voll­stän­di­gen Um­lauf braucht er die Zeit TC.

Am Pol scheint sich die Schwingungsebene des Pendels einmal in 24 Stunden zu dre­hen, zum Äqua­tor hin dau­ert ein voller Umlauf immer länger, am Äquator tut sich nichts mehr (TC=∞) ...

Pendel-Umlaufzeiten - Breiten 1° - 20°

Pendel-Umlaufzeiten - Breiten 20° - 90°




Wirbelnde Wasser im Waschbecken


Fließt Wasser aus einem Waschbecken ab, so bildet sich im Abflusstrichter ein spiralförmiger Was­ser­stru­del, der linksherum oder rechtsherum wirbeln kann. Der Grund: Das Abflussrohr ist eng, das nach­flie­ßen­de Wasser muss seitlich horizontal ausweichen, es bildet sich ein Spi­ral­wir­bel.

Wie herum das Wasser nun abfließt, hängt von der Beckenform und vom Abfluss ab, die Co­rio­lis­kraft hat sicher keinen Einfluss auf dieses Geschehen.

Es ist wie bei den Verschwörungstheorien, der größte Unfug hat auch die höchste Be­stän­dig­keit – oder auch: eine abstruse Erklärung ist immer noch besser als gar keine.

Dazu denn doch eine kleine quantitative Be­trach­tung am Nordpol. ω ist die Win­kel­ge­schwin­dig­keit der Erdrotation. v ist die Ho­ri­zon­tal­ge­schwin­dig­keit irgendeines schnell da­hin fließenden Wassertropfens. Die Co­rio­lis­kraft bc hat die Größe:

bC(θ=½ π) = 2 ω v

ω ≈ 2π/(24⋅60⋅60) 1/s
ω ≈ 7.3 10-5 1/s

v ≈ 1,5 m/s

Zum Größenvergleich, bG ist die Gra­vi­ta­tions­be­schleu­ni­gung, sie wirkt zwar nur in der vertikalen, ist aber die erste Re­fe­renz­grö­ße:

bC = 2,2 10-4 m/s2

bG = 9,8 m/s2

Zwischen den beiden Beschleunigungen liegen also fast 5 Größenordnungen. Zudem liegt der Be­trach­tungs­zeit­raum bei einigen Sekunden – solch kleinen Kräfte könnten hier nur über große Zeit­räu­me Wirkung zeigen. Dennoch wäre eine Abschätzung von weiteren wirksamen Ho­ri­zon­tal­kräf­ten eine nette Angelegenheit ...



© 2014 Bernd Ragutt
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 ... hier kann man hinschreiben letzte Änderung: 28. Mai 2016
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